Episode 176: Johnny Guitar, 1954
Was wenn der Western als Genre eine Lüge ist? Wenn es gar keinen meritokratischen Wettbewerb um die schönste christliche Utopie bei der Erschließung des Westens gab oder gibt, weil der reaktionäre Kapitalismus sowieso schon gewonnen hat? Darum, so unsere Lesart, geht es in Nicholas Rays apokalyptischem Johnny Guitar. Wir reden darüber, warum der Film für das amerikanische Publikum zehn Jahre zu früh dran war. Und warum er für die europäischen Kinogänger, besonders in Paris, genau rechtzeitig kam.
Episode 175: Dracula, 1958
Man kann Terence Fishers Dracula auf mindestens zweierlei Weisen gucken: eine, bei der man den Plot ernst nimmt und glaubt, es geht um die Vernichtung Draculas (zum ersten Mal: Christopher Lee) durch Van Helsing (Peter Cushing). Dann muss man sich allerdings auf Langeweile einstellen. Das liegt daran, dass sich die vermeintlich Guten und Redlichen hutzelige Männchen mit stiff upper lips sind, fast noch reaktionärer als die männliche Besetzung von Bram Stokers Roman. Damit lässt sich der sagenhafte Erfolg des Films nicht erklären. Die viel schönere und plausiblere Alternative: wir schauen den Film und gehen davon aus, dass sexy Dracula der Held ist. Wir reden darüber, wie Terence Fisher seinen Film so baut, dass das Publikum gar nicht anders kann als – frei nach William Blake – of the devil’s party without knowing it zu sein. Und schwelgen in Technicolor und Christopher Lees Byronic badness.
Episode 174: Revolver – Die perfekte Erpressung (Revolver), 1973
Wir erleben mit dem Gefängnisdirektor Vito Cipriani (Oliver Reed), dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Italien und Frankreich Mumpitz ist. Stattdessen regiert das Kapital. Von hier auf jetzt sind Recht und Gesetz egal: Ciprianis Frau wird entführt. Der Gefängnisdirektor wird gezwungen, einen Sträfling laufen zu lassen, wenn er sie wiedersehen will. Milo Ruiz (Fabio Testi), so der Name des Sträflings, soll verschwinden, weil das Kapital es so will. Aber vorher bäumen sich Ruiz und Cipriani noch einmal gegen die neue, alte Weltordnung auf. Das ist natürlich ein hoffnungsloses Unterfangen, wenn es an Klassenzusammenhalt mangelt. Wir reden darüber, wie präzise Sollima diese Ausweglosigkeit langsam und systematisch spürbar macht. Und über Ennio Morricones grandiosen Score, der uns das böse Ende des Films eigentlich schon ganz früh verrät. Wir wollen es aber nur nicht wahrhaben.
Episode 173: Der eiskalte Engel (Le samouraï), 1967
Alles an diesem Film ist Behauptung und Erfindung, angefangen beim Zitat, das Melville in der ersten Einstellung einblenden lässt: das stamme aus dem Ehrenkodex der Samurai, behauptet der Film da. Das ist natürlich Quatsch. Der Regisseur und Drehbuchautor hat es frei erfunden. Der eiskalte Engel macht auch sonst keinerlei Hehl aus seiner Künstlichkeit, seinem Ästhetizismus: theaterhafte Sets prallen auf gegenwärtige Straßenaufnahmen wie weiland bei der Nouvelle Vague, viele der Figuren haben erst gar keinen Namen, sondern tragen nur eine Typenbezeichnung: „der Kommissar“, „die Pianistin“. Zuvorderst wird Alain Delon zur reinen, wunderschönen Oberfläche. Und zumindest im Film darf diese Schönheit gegen die Absurdität des menschlichen Daseins gewinnen.
Episode 172: Frankenstein Junior (Young Frankenstein), 1974
Wir reden darüber, wie der Film mit James Whales‘ legendären Frankenstein-Verfilmungen für Universal umgeht – und wie die Drehbuchautoren Mel Brooks und Gene Wilder vielleicht auch Bezug auf Mary Shelleys Roman nehmen. Wie Brooks immer wieder Momente echten Grauens produziert und sich enorm viel Zeit nimmt, bis er dann endlich mit einem Gag diesen Momenten die Schwere nimmt. Und natürlich über das Schauspiel der gerade verstorbenen Cloris Leachman, die als Frau Blücher Pferde scheu macht und Bettpfosten erotisch auflädt.
Episode 171: Frau in Schwarz (The Woman in Black), 1989
Obacht: die Archivare unterhalten sich nicht etwa über den Film mit Daniel Radcliffe von 2012, sondern über die Erstverfilmung von Susan Hills Geistergeschichte aus dem Jahr 1989. Hill war damals alles andere als begeistert über Herbert Wises Fernsehfilm, die Einschaltquoten zu Weihnachten waren mäßig – aber The Woman in Black hat seitdem deutlich an Reputation gewonnen. Das liegt nicht zuletzt am Drehbuch des legendären britischen Fernsehautors Nigel Kneale. Wir unterhalten uns darüber, wie Kneale den schauerromantischen Stoff adaptiert: aus der vage feministischen Heimsuchung des Prosatextes wird im Film die grauenhafte Rückkehr des Viktorianischen an sich. Zudem versuchen wir, die britische Geistergeschichte vom Horrorfilm abzugrenzen. Jochen wagt die These, dass es sich bei The Woman in Black um so etwas wie anti-heritage cinema handelt. Und wir klären, warum man in dieses Geisterhaus auf gar keinen Fall einziehen möchte.
Episode 170: JSA – Joint Security Area (Gongdong gyeongbi guyeok JSA), 2000
Kann Kunst Wirklichkeit verändern? Ist irgendjemand schon einmal aus dem Kino gekommen mit einer nachhaltig veränderten Weltsicht? Oder konkreter, auf unseren Film der Woche bezogen: Wenn man Nordkorea für einen bitterbösen Schurkenstaat hält und sicher ist, dass jeder Kommunist ein Diener des Satans persönlich – kann einen dann ein Film vom Gegenteil überzeugen? Park Chan Wooks Joint Security Area versucht es zumindest. Zum Beispiel, indem er im ersten Drittel scheinbar eben diese Vorurteile bestätigt. Und uns dann in der zweiten Hälfte gnadenlos den Boden unter den Füßen wegzieht: mit nord- und südkoreanischen Soldaten, die sich zusammen besaufen, die tanzen, herumalbern. Und indem er uns den Korea-Konflikt immer wieder als Performance zeigt, eine idiotische Bühnenshow – nur im Leid, das sie bringt, schrecklich real. Um unsere Fehleinschätzungen sicht- und spürbar zu machen, benutzt Park Chan Wook Genrestrukturen: Krimi, Thriller, die koreanische Variante von heroic bloodshed. Wir reden über die rhetorischen Strategien des Films. Und darüber, dass er am Ende dann doch tieftraurig ist – und alles andere als sicher, dass Kino die Welt verändern kann.
Episode 169: Kuhle Wampe, oder: Wem gehört die Welt?, 1932
Jede Menge NS-Filme haben wir uns im Archiv schon zur näheren Betrachtung herangezogen, aber linkes Kino aus den 30er Jahren fehlte bisher. Wir sorgen mit Slatan Dudows Kuhle Wampe (1932) für Abhilfe. Für die nötige linke Street Cred haben wir noch ein Drehbuch von Bertolt Brecht und Musik von Hanns Eisler im Angebot. Auf der stark rudimentären Handlungsebene geht es um eine verarmte Berliner Familie, die ihre Wohnung verliert und im Zelt-Slum Kuhle Wampe landet. Aber ungleich faszinierender sind die Indoktrinationsstrategien des Films: avantgardistische Bild- und Tonmontage und Verfremdungseffekte, aber auch halbdokumentarischer Realismus. Wir unterhalten uns darüber, wie gut Brecht den Sprung in ein so visuelles Medium hinbekommt. Und auch Tage nach Aufnahme dieser Folge werden wir den Hanns Eisler-Ohrwurm nicht los: „Vorwärts! Und nicht vergessen! Wo-rin unsre Stärke besteht!“
Episode 168: Kuroneko (Yabu no naka no kuroneko / Black Cat), 1968
Es ist 1968, auch in Japan rebelliert die Jugend – und Kaneto Shindô dreht einen Geisterfilm, der genau diesen Generationenkonflikt thematisiert, der außerhalb der Kinosäle tobt. Nur auf den ersten Blick wirkt Kuroneko wie ein reines Genrestück, so sehr ästhetisiert, dass dem exotistisch erotisierten Westler das Herz übergeht. Sieht man genauer hin, wird die politische Allegorie mehr als offensichtlich: es geht um einen Bauernjungen, der im Krieg zum Samurai aufgestiegen ist – und jetzt nach Hause zurückkehrt. Nur ist die ärmliche Hütte abgebrannt, Mutter und Ehefrau sind tot. Was er nicht weiß: die beiden Toten sind als Rachegeister zurückgekehrt, die Samurai in die Falle locken und meucheln. Samurai wie er selbst. Es geht ohne Zweifel darum, dass nach 1945 die eigenen Söhne nicht nur als körperlich wie seelisch Versehrte aus dem Krieg zurückkamen, sondern auch als Kriegsverbrecher. Wir reden darüber, wie der Film gebaut ist, um diese Assoziationen auszulösen. Und, ja, auch über seine berauschende Überästhetisierung, mit Anleihen im Noh-Theater und beim Kabuki.
Episode 167: Jagd auf die Bestie (Yajû no seishun / Youth of the Beast), 1963
Gemischte Gefühle: Seijun Suzuki hat sie. Gegenüber fast allem, was Anfang der 60er Jahre in der japanischen Filmkultur so modern ist. Yakuza-Filme zum Beispiel: Suzuki kann nicht anders, er liebt die Coolness der japanischen Gangsterfiguren, die immer gleichen Genrestrukturen. Aber er weiß auch immer, wie reaktionär diese Strukturen sind, wie problematisch und oft auch reaktionär es ist, Yakuza zu Helden zu machen. Und er findet in Youth of the Beast zum ersten Mal Erzählstrategien, um diese Hassliebe zum Ausdruck zu bringen. Wir reden darüber, wie die funktionieren. Über panoptische Nachtclubs und Guckkasten-Set Pieces. Und natürlich über die fabelhaften Bäckchen von Jô Shishido.